Nennen Sie es Galgenhumor
Dave Gahan (07.12.2012)
Wenn man schon mal klinisch tot war, sieht man die Dinge gelassener. Der Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan über die Lehren aus einem dunklen Moment in seinem Leben, Auftritte in Diktaturen und seine Jugend als Punk.
Kitschige Ölgemälde in barocken Goldrahmen, schwere Teppiche, verschnörkelt bemalte Porzellan-Lampen – und mittendrin sitzt Dave Gahan. Als Sänger von Depeche Mode ist er eine der bekanntesten und schillerndsten Figuren der jüngeren Popgeschichte, im Zimmer dieses Pariser Luxushotels wirkt er etwas deplatziert: grau melierter Stoppelbart, klobige Ringe an den Händen, schwarze Weste über schiefem Unterhemd, dazu schwarzes Jackett und schwarze Jeans. Sogar die Haare sind noch tiefschwarz, er trägt sie wieder nackenfrei und gegelt wie in den 80er-Jahren, als Millionen Elektro-Fans so aussehen wollten wie er und ihn nachahmten. Jetzt haben Depeche Mode hier in Paris eine neue Welttournee für 2013 angekündigt und nehmen sich Zeit für Interviews nahe den Champs-Élysées. Gahan, dessen Gesichts- und Augenfalten seine nun auch schon 50 Jahre verraten, hat gute Laune – obwohl er die ganze Zeit im Hotel sitzen muss. „Jetzt sind wir schon in Paris und kommen kaum vor die Tür“, brummelt er grinsend, „aber hey: Wir sind immerhin in Paris!“
Mr. Gahan, Sie treten mit Depeche Mode demnächst an Orten auf, die von internationalen Pop-Stars nur selten bespielt, meistens ganz gemieden werden: Sofia, Kiew, Bratislava, Minsk oder Zagreb beispielsweise. Was reizt Sie daran?
Wir wollten von Anfang an zwei Dinge: die Welt sehen und überall dort spielen, wo uns Leute hören wollten. Selbst als diese Orte noch hinter dem Eisernen Vorhang lagen, sind wir dorthin gefahren. Das ließ sich in unserem Job meistens gut verbinden.
Auftakt der neuen Tour ist ausgerechnet in Tel Aviv. 2006 mussten Sie Ihr Konzert dort wegen des Libanonkrieges absagen …
Ja, das haben wir sehr bedauert. Das geschah, als bereits das Ende der Tour in Sicht war. Jeder von uns war müde, aber es stand noch die Show in Tel Aviv an. Als wir in der Türkei waren, wurde berichtet, dass Raketen auf Tel Aviv abgefeuert wurden. Dennoch waren wir als Band entschlossen, dort aufzutreten.
Hatten Sie keine Angst?
Nein, wir selbst waren nicht um unsere persönliche Sicherheit besorgt. Aber es ging ja nicht nur um uns. Wir waren ja auch für die 50.000 Menschen in dem großen, offenen Park verantwortlich, in dem wir spielen sollten. Da wurden dann die unterschiedlichen Bedrohungsszenarien durchgespielt: Was wäre, wenn sich ein Terrorist unter die Zuschauer mischte und womöglich eine Bombe zündete? Außerdem hatte uns die Hälfte unserer Crew unmissverständlich klargemacht: „Ihr könnt uns feuern, aber wir fahren da nicht hin.“ Also sagten wir ab, obwohl wir viele Fans in Israel damit maßlos enttäuschten. Wir bekamen daraufhin Tausende tieftraurige, herzzerreißende Mails und Briefe. Die Leute hatten sich gerade wegen der angespannten Lage auf unser Konzert gefreut. Es ging damals nicht anders. Wir sind dann bei der nächsten Tournee 2009 dort aufgetreten.
In den 80er-Jahren durften Depeche Mode als eine der wenigen westlichen Bands viele Konzerte in damaligen Ostblock-Ländern wie Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR spielen. Wie schwierig war es, als Westband dort aufzutreten?
Es gab jede Menge Hürden, die man überwinden musste. Die erste war: Man musste überhaupt erst einmal reingelassen werden hinter den Eisernen Vorhang. Wir mussten unser Management immer wieder fragen: Können wir in Polen spielen? Können wir in Ost-Berlin spielen? Unsere Agenten fragten dort immer wieder an – und wenn sie irgendwann eine Einladung bekommen hatten, sagten wir meistens sofort zu. Für uns war das auch ein kleines, reizvolles Abenteuer – keine andere westliche Band fuhr da hin! Denn den meisten waren diese Länder völlig egal. Außerdem konnte man mit den Konzerten im Osten kein Geld verdienen: Polnische Zloty oder tschechische Kronen konntest du ja nicht umtauschen, wir konnten also nicht mal unsere Produktionskosten decken. Die waren damals aber auch noch nicht annähernd so hoch wie heute. Wir waren einfach neugierige, junge Burschen, die darauf brannten; die überall auftreten wollten. Die Leute wollten uns hören – also fuhren wir hin.
Ihr Bandkollege Martin Gore lebte von 1985 bis 1987 mit seiner deutschen Freundin sogar in West-Berlin, nahe der Mauer. Sie nahmen im Hansa-Studio Ihre Alben „Some Great Reward“ und „Black Celebration“ auf. Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit, als Berlin noch Grenzstadt war und keine Schnittstelle zwischen Ost und West?
Wann immer ich in den letzten Jahren in Berlin war, dachte ich: Unfassbar, wie sich die Stadt seitdem verändert hat und ständig weiter verändert. West-Berlin war damals eine kleine Insel. Fast wie das Greenwich Village in New York, wo ich heute lebe: ganz anders als der Rest des Landes. So war Berlin auch offener, kreativer, aufregender, großstädtischer, multikultureller als der Rest von Deutschland. Die Zeit, als wir in den Hansa-Studios direkt an der Mauer arbeiteten, hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Ich weiß noch, wie wir aus dem Mix-Raum guckten – und fast direkt auf die Wachposten blickten. Unheimlich, sich das heute vorzustellen.
Am 7. März 1988 gaben Depeche Mode ein inzwischen legendäres Konzert in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle in Prenzlauer Berg. War das, abgesehen von der Neugier, die Sie zu solchen Grenzüberschreitungen antrieb, ein politisches Statement?
Nein. Die politischen Deutungen unserer Auftritte interessierten uns kaum. Wir waren jung, freuten uns darüber, dass wir auch in der DDR ein riesiges Publikum hatten. Wir dachten nicht in Kategorien wie: Ist das jetzt richtig oder falsch, anbiedernd oder rebellisch? Im Grunde stellten wir uns immer wieder dieselben Fragen: Können wir da hinfahren? Können wir da auftreten? Und wenn unser Manager meinte „könnte klappen“, jubelten wir: „Auf geht’s!“
Ihr Bandkollege Andy Fletcher sieht das etwas kritischer. Er sagte uns, Depeche Mode seien öfter von den Regimes für deren Zwecke eingespannt worden.
Das ist verzwickt. Einerseits stimmt das. Auch bei unseren Konzerten in der DDR wurden wir wohl von der Partei ausgenutzt – allein schon in dem Sinne, dass sie sich selbst als modern darstellen konnten, nur weil sie uns auftreten ließen. So gaben sie sich übrigens auch uns gegenüber. Auch wenn wir nach Polen oder Tschechien kamen, wurden wir dort von den Veranstaltern und Sicherheitsleuten unglaublich hofiert.
Aber ist so was bei Rockstars nicht gang und gäbe?
Das hatte noch mal eine andere Dimension. Die Verantwortlichen in den Ostblock-Ländern legten sich auf sehr übertriebene Art ins Zeug, wohl, um uns zu beweisen, wie gut und normal das Leben in ihren Ländern doch sei. Wir wurden beispielsweise in dekadente Hotels gesteckt und dort sagte man uns ständig: „Seht her, auch wir haben – Eier! Wir haben alles, was Ihr aus dem Westen kennt!“ Aber wir waren ja nicht blöd. Wir wussten natürlich, dass es den Menschen außerhalb des Hotels nicht annähernd so gut ging wie uns da drinnen.
Sie bereuen also nicht, dort aufgetreten zu sein?
Wir waren getrieben von der Idee, dass Musik keine Grenzen, keine Teilung kennt. Wir fanden und finden nach wie vor, Musik darf nicht zensiert werden. Man darf niemandem verbieten, diese oder jene Musik zu hören, weil sie als subversiv gilt. Auch das haben wir erlebt. Wir dürfen beispielsweise bis heute nicht in China auftreten, weil bestimmten Moralwächtern Inhalte unserer Songs nicht passen. Erst vor ein paar Jahren haben sie noch alle unsere Texte kontrolliert – und uns dann abgelehnt.
Welche Lieder waren den Chinesen denn zu subversiv – „People are People“?
Das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Ich schätze, Sie sahen in uns vor allem Botschafter des freien Westens. Sie fürchteten offenbar, dass schon die Konzerte wie eine Art Werbung für westliche Werte wirken. Obwohl wir uns selbst nie in dieser Rolle gesehen haben. Für die Jugend in all diesen Ländern stand Depeche Mode sicher auch für Werte wie persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit der Kunst, ohne dass wir das explizit in unseren Songs ausgesprochen hätten. Vielleicht haben wir diese Jugend durch unsere Auftritte ein bisschen inspiriert oder ermutigt. Manchmal fühlte es sich so an.
Woran machen Sie das fest?
Als wir beispielsweise 1988 zum ersten Mal in Ost-Berlin die Bühne betraten, lag etwas in der Luft. Wir konnten einen Freiheitsdrang, eine besondere Euphorie spüren, die von den Leuten im Publikum ausging. Man konnte dieses Gefühl fast mit den Händen greifen. Dieser Tag, die Tatsache, dass wir dort spielten, war etwas Besonderes für die Zuschauer dort. Und für uns hat sich das genauso angefühlt. Manchmal spürten wir jedoch bei unseren Konzerten im Ostblock genau entgegengesetzte Gefühle – eine Angespanntheit und Angst. Das spüre ich auch heute noch manchmal, wenn wir in Krisengebieten auftreten. Wenn sich beispielsweise Songs verselbstständigen. Je nachdem, wo wir auftreten, können sie ganz anders gedeutet werden. „Walking In My Shoes“ wurde vor der politischen Wende von vielen Zuschauern in Osteuropa wie eine Art Volkslied gefeiert. Alle singen mit: „Ich würde dir von all dem erzählen, was sie mir angetan haben / all dem Schmerz, dem man mich aussetzte … Bevor du deine Schlüsse ziehst, versuch einmal dich in meine Lage zu versetzen.“ Wenn das Zehntausende mit unglaublicher Inbrunst mitsingen, ist es, als würde ihnen der Song aus der Seele sprechen.
Vielleicht wird das am Ende Ihrer Tournee wieder genauso sein, dann spielen Sie erstmals in Minsk, in Weißrussland …
Wieder so ein Ort, an dem vor uns noch keine westliche Band spielte.
Aus gutem Grund: Das Land gilt als letzte Diktatur Europas. Menschenrechtsorganisationen fordern, solche Staaten zu boykottieren und nicht dort aufzutreten.
Unser Weg ist heute der gleiche wie damals. Wir wollen auch in solche Länder fahren, um die Menschen dort zusammenzubringen. Wenn wir in Minsk spielen, werden im Stadion Leute aus allen politischen Lagern sein. Aber in unserem Konzert sind sie vereint.
Können Sie sich vorstellen, dann Ihre privilegierte Position zu nutzen, indem Sie beispielsweise die Internetzensur des weißrussischen Diktators Lukaschenko kritisieren?
Gewöhnlich sage ich schon ein paar Sätze zu der Situation vor Ort. Nur will ich damit keinen Spalt durchs Publikum treiben. Ich will so ein Konzert nicht anders aufbauen, nur weil es in Minsk und nicht in Berlin oder Kalifornien stattfindet. Ich sehe eher das Einende: Auch in Weißrussland gibt es Menschen, die seit Jahren unsere Musik hören. Das verbindet sie mit uns und mit dem Rest der Welt. Und diese Verbindung will ich nicht zerstören. Ich will auf der Bühne keine Politik predigen, das ist Bonos Job.
Der brachte im Umfeld eines U2-Konzertes in Moskau das Kunststück fertig, kurz vorher medienwirksam mit Präsident Dmitri Medwedew Tee zu trinken, um über Afrikahilfe zu sprechen – und später beim Konzert holte er dann den Dissidenten-Rocker Juri Schewtschuk auf die Bühne.
Bono checkt in jeder Stadt vorher die Nachrichtenlage, lässt sich briefen, um dann detailliert Stellung beziehen zu können. Er ist darin auch richtig gut. Aber ich mache sowas nicht.
Depeche Mode haben auch schon in Moskau gespielt und treten dort 2013 wieder auf. Nur einmal angenommen, kurz bevor Sie da auftreten, hätte das Verfahren gegen die Mädchen-Punkband Pussy Riot stattgefunden. Wie wären Sie damit umgegangen?
Ich habe gesehen, dass andere Musiker das Urteil kommentiert haben oder Protest-Shirts auf der Bühne trugen. Das kann man alles machen. Aber es ist nicht meine Art, mich auszudrücken. Dass wir uns nicht missverstehen: Ich bin gegen jede Form von Zensur und Einschränkung der freien Meinungsäußerung. Meinungsfreiheit sollte so selbstverständlich sein wie die Luft, die wir atmen. Und was Pussy Riot taten, als sie in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau gegen Präsident Putin protestierten, war einfach freie Meinungsäußerung. Möglicherweise war der Ort, den sie wählten, um ihre Meinung zu äußern, etwas kontrovers. Immerhin ist die Kirche in Russland ein Hort der Tradition.
Sie können sich also in jene Menschen hineinversetzen, die durch den Protest in der Kathedrale ihre religiösen Gefühle verletzt sahen?
Das kann ich eben nicht. Weil ich nicht religiös bin.
Ihre Texte legen etwas anderes nahe: Sie singen über „The Sinner in Me“ und „The Presence Of God“, über den „Personal Jesus“ – und immer wieder auch über Engel und Teufel.
Aber da geht es nicht um Religion, sondern um Spiritualität. Großer Unterschied. Ein Teil des Universums sein zu wollen oder die Verbindung zu der Kraft zu fühlen, die da draußen ist – das hat für mich nichts mit Religion zu tun.
Klingt esoterisch.
Gar nicht. Wir verschwenden doch immer noch zu viel Zeit darauf, uns durch Religionen voneinander unterscheiden zu wollen. Aber wie kann es darauf ankommen, auf welche Art und Weise man glaubt? Falls es einen Gott gibt, dann ist es doch immer nur dieser eine, oder? Es gibt nicht zehn, die sich in einem Komitee beraten müssen. Und dieser eine Gott stört sich ganz sicher nicht an einer kleinen Punkband, die in Russland in einer Kathedrale auftritt.
Eine wilde Zeit. Ich erinnere mich sehr gut daran, sie prägt mich bis heute. Ich war praktisch ohne Vater aufgewachsen; um an etwas Geld zu kommen, verhökerten meine Freunde und ich sogar mal Hehlerware und landeten kurz im Jugendarrest. Ich verließ schon mit 15 Jahren die Schule, aber es gab keinerlei Jobs. Der Müll türmte sich am Straßenrand, weil es immer wieder Streiks gab. Jeder streikte. Die Müllabfuhr, die Bergarbeiter, jeder. Unsere Lehrer sagten uns immer wieder: Aus Euch wird niemals etwas werden. So kam ich dann zum Punk.
Was hat Sie daran angesprochen?
Plötzlich waren da diese irren Typen in all diesen Bands, die genau waren wie wir. Als ich 14 war, war Punkrock das Erste, zu dem ich eine echte Verbindung aufbauen konnte. Die Sex Pistols sprachen endlich eine Sprache, die ich verstehen konnte.
Umso überraschender, dass Sie nur drei Jahre später Depeche Mode mitgründeten und dann düsteren Elektro-Pop auf Synthesizern und Drumcomputern spielten – eine komplett andere Musik als der Gitarrenlärm der Punk-Bands. Was hat diese Metamorphose bei Ihnen eingeleitet?
Es gab auch bei Depeche Mode immer noch eine Verbindung zum Punk. Klar, The Clash waren politischer, die Sex Pistols provokanter, ihre Musik wurzelte im Rock ’n’ Roll. Aber schon Siouxsie And The Banshees, die ich verehrte, sangen viel abstrakter, kunstvoller über Frustration. Kälter und dunkler. Mit Depeche Mode stiegen gegen Ende der Punkbewegung neue Bands aus dem Untergrund auf: The Cure, Echo And The Bunnymen, Joy Division, New Order … Sie alle würden die Sex Pistols und The Clash als ihre Initialzündung nennen, da bin ich sicher. Auch wenn Depeche Mode ein anderes Musikgenre schufen, hatten wir doch die wesentliche Idee des Punk verinnerlicht: dass du kein großer Musiker sein musst, um großartige Songs schreiben zu können. Wir konnten einfach mit zwei Fingern auf dem Synthesizer spielen, die Drum-Maschine anwerfen, die Technik einstöpseln und unsere kurzen Drei-, Vier-Minuten-Songs spielen. Unser Credo war: Wir können machen, was wir wollen! Wir brauchen kein teures Equipment, wir schreiben einfach unsere Songs. Und jedem, der an uns zweifelte, schrien wir entgegen: „Wir können das sehr wohl!“
Nur klangen Sie melancholisch und kühl.
Nein, in unseren frühen Jahren waren wir laut und schnell. Wir drehten die Drum-Maschine voll auf und legten los. Wir waren wie elektronische Ramones! Und wir waren nie so wie all jene 80er-Bands, die die 80er nicht überlebten, wie Duran Duran oder Spandau Ballett. Wir drehten keine Videos in Sri Lanka auf einem weißen Boot, wir drehten in Berlin, in einem Abbruchgebäude, in dem wir Autos zertrümmerten. Unser Sound war hart und kalt, die Instrumentierung manchmal brutal. Das Besondere war aber, dass im Zentrum der Lieder immer Melodie, Gefühle, Emotionen und Ehrlichkeit standen. Und das funktioniert bis heute.
Ihre Alben verkaufen sich nach wie vor millionenfach, aber die Kritiker mäkeln, mit Depeche Mode sei es nicht anders als mit den Rolling Stones: Es gibt immer noch neue Songs, die aber nie mehr an die Klassiker heranreichen. Trifft Sie das?
Natürlich schmerzen solche Kritiken. Wenn du Songs schreibst, auf die du stolz bist, und Kritiker maulen: „Damit kann ich nichts anfangen.“ Das verletzt mich, klar. Aber nach 30 Jahren gibt es eben auch Leute, die dich von früher kennen und dich damals vielleicht mehr mochten als heute. Und wenn sie uns jetzt schlecht finden, nun, dann müssen sie heute wohl anderen Bands den Vorzug geben.
Überlegen Sie manchmal, ob an der Kritik etwas dran sein könnte? Zum Beispiel ist von The Cure seit Jahren nichts Neues erschienen. Deren Bandleader Robert Smith hat das einmal damit erklärt, dass er nur gute Songs schreiben könne, wenn er so richtig unglücklich sei. Inzwischen gehe es ihm einfach zu gut. Sie dagegen singen noch immer, „We are damaged people, disturbed souls“, beschädigte Menschen, verstörte Seelen – obwohl Sie heute Millionäre und Familienväter mittleren Alters sind.
Klar, wir sind heute glückliche Menschen. Aber jeder schwingt eben auch vor und zurück. Ich habe Momente, in denen ich mich in einen finsteren Winkel versetzt fühle. Heute kann ich mich bewusst entscheiden, dann nicht in Depressionen zu verfallen. Aber ich kenne diese Stimmung sehr gut, die unsere Songs beschreiben. Heute gehe ich raus, laufe etwas durch New York, umgebe mich mit Menschen. Das ist das Gute an New York: Du kannst herumlaufen und trotzdem auf gewisse Weise isoliert sein. Aber in all diesen Stimmungen schreibe ich Songs. Ich beschreibe meine Gedanken über Vergangenes oder über eine Beziehung zu mir oder einer anderen Person – oder der Welt. Ich will gehört, ich will verstanden werden, das treibt mich an.
Aber vielleicht wirkt ein Song drängender, wenn man gerade wirklich am Leben leidet, wie Sie vor 15 Jahren, als Sie Ihre Drogensucht therapieren mussten und fast gestorben wären.
Erfolg hat einen Vorteil: Ich kann es mir heute leisten, ein Künstler zu sein, muss mir keine Sorgen übers Geld machen oder wie ich die Studiengebühren meiner Kinder zahlen soll. Aber dass dieses neue Lebensgefühl unsere Musik verändert hat, glaube ich nicht. Denn ich habe nie vergessen, wo ich herkomme. Ich lebe in dem Gefühl, dass ich alles so schnell wieder verlieren kann, wie es mir gegeben wurde.
Mr. Gahan, Deutschland ist eine der unbestrittenen Hochburgen von Depeche Mode. Einer Ihrer Bandkollegen erklärte das damit, dass Sie über Gefühle singen und dazu Maschinenmusik spielen – „Sowas mögen Deutsche eben.“ Allein dieser Satz zeigt, was viele an Depeche Mode übersehen: Ihre Selbstironie und Ihren Humor.
Endlich sagt es mal jemand.
Ihre Texten sind voller selbstironischer Andeutungen, nach Ihrer öffentlich durchlittenen Drogenkrise schrieben Sie Songs wie „Suffer Well“, leide schön. Auf einem der käuflichen Tour-Shirts von Depeche Mode stand einmal „Pain and suffering in various tempos“, Schmerz und Leiden in verschiedenen Geschwindigkeiten. Fühlen Sie sich manchmal sogar zu ernst genommen?
Also, zuerst muss ich betonen, dass wir unsere Musik sehr, sehr ernst nehmen. Aber wir sind nun mal Engländer. Sarkasmus, einander veralbern, das gehört zu unserer Natur. Wir tun das im Studio, hinter der Bühne, wenn wir Musik machen.
Über Ihre Lebenskrise in den 90er-Jahren ist viel öffentlich geworden: wie Sie mit Ihrer Drogensucht kämpften, einen Suizidversuch begingen, sich zweimal scheiden ließen, 1996 nach einer Überdosis Heroin schon klinisch tot waren und nur knapp gerettet wurden. Holt Sie diese Zeit manchmal noch ein?
Ich bin mit mir im Reinen. Ich bin durch diese Hölle gegangen, und tatsächlich versetzen mich einige unserer Songs mental noch immer in diese Zeit zurück, wenn wir sie spielen. Aber heute weiß ich, wie ich da hineingeraten bin und kann rechtzeitig die Bremsen ziehen. Ich sehe es als Warnung an mich selbst.
Als Gastsänger und Texter des englischen Musikprojekts The Soulsavers haben Sie deren neue CD „The Light the Dead see“: Das Licht, das die Toten sehen. Ein Kommentar zur großen Medien-Aufmerksamkeit für Ihre eigene Wiederkehr von den Toten?
Nennen Sie es Galgenhumor. Ich mag solche Poesie: düster, aber zugleich humorvoll in ihrer Dunkelheit. So wie die Geschichten von Edgar Allan Poe – abgedreht und wahrscheinlich im Opium- und Alkohol-Rausch entstanden, aber auf ihre Art witzig. Das liebe ich. Du brauchst immer Humor im Leben. So schwer, wie es manchmal ist, würden wir sonst alle nur in der Ecke sitzen und heulen.
Das Interview führte Steven Geyer
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